"Das Missbrauchspotenzial ist sehr hoch"
WirtschaftsWoche (WiWo): Herr Mundt, die EU-Staaten haben die Kommission beauftragt, bis Jahresende eine industriepolitische Langfriststrategie zu entwerfen - und im Zentrum steht das Wettbewerbsrecht. Müssen die Kartellämter um ihren Einfluss bangen?
Andreas Mundt (Mundt): Das glaube ich nicht. Es ist richtig, mit Blick auf die wirtschaftliche Großmacht China und den wachsenden Protektionismus eine neue Gesamtstrategie zu entwickeln. Im Vergaberecht etwa müssen wir stärker auf sogenannte Reziprozität drängen: Es ergibt ökonomisch Sinn, dass sich auch Unternehmen aus Nicht-EU-Staaten an europäischen Ausschreibungen beteiligen. Nur sollte das andersherum genauso möglich sein. Das Außenwirtschaftsrecht bietet Ansatzpunkte, ein strategischer Ansatz bei Verhandlungen über Wirtschaftsbeziehungen ist notwendig. Wir sollten aber auf keinen Fall das Wettbewerbsrecht in Europa zur Disposition stellen – und Monopole und Duopole zulassen oder fördern, die zulasten der Verbraucher gehen.
WiWo: Viele Politiker und Wirtschaftsvertreter sind sich da nicht so sicher. Das marktbeherrschende Unternehmen von heute heißt „Europäischer Champion“...
Mundt: ...aber Champion-Größe lässt sich nicht nur durch Fusionen und staatliche Unterstützung erreichen! Dazu braucht es in erster Linie Wachstum durch Innovation und gute Leistung. Gerade dafür benötigen wir den funktionierenden Wettbewerb auf den Heimatmärkten. Zudem gibt es viele Möglichkeiten, jenseitseiner Fusion, miteinander zu kooperieren, wenn sich Unternehmen um Aufträge am Weltmarkt bewerben. Hier lässt das Wettbewerbsrecht einiges zu.
WiWo: Deutschland und Frankreich wollen die Entscheidung über strittige Fusionen der Politik übertragen. Eine gute Idee?
Mundt: Mir fehlt die Fantasie, wie das auf EU-Ebene umgesetzt werden soll. In Deutschland sind wir mit der Ministererlaubnis bisher gut gefahren; sie ist ein Ventil, um politischen Druck aus wettbewerbspolitisch heiklen Entscheidungen zu nehmen. Es gibt ein klares, gerichtlich kontrolliertes Verfahren. Dabei ist sichergestellt, dass keine sachfremden Erwägungen einfließen. Das wäre womöglich anders, wenn der Europäische Rat über eine Fusion entscheidet. Dann kommen unterschiedliche nationale Interessen ins Spiel. Es besteht die Gefahr, dass politische Pakete geschnürt werden –und der Wettbewerb dann nur noch ein Aspekt unter vielen ist.
WiWo: Das Bundeskartellamt bekommt jedes Jahr mehr als 1000 Fusionsanträge auf den Tisch. Wie viele winken Sie durch?
Mundt: Den größten Teil. Nur eine Handvoll Fälle sind komplexere Verfahren, die wir nicht binnen vier Wochen entscheiden können –aktuell etwa der Zusammenschluss von Remondis und DSD oder die geplante Zusammenführung bestimmter IT-Services von IBM und T-Systems. Insgesamt landen bei uns zu viele unproblematische Fälle. Das bindet Ressourcen, die bei wirklich kniffligen Verfahren fehlen. Auf der anderen Seite gibt es Übernahmen, etwa in der Entsorgungsbranche, die wir uns gerne ansehen würden, an die wir aber aufgrund bestehender Umsatzschwellen nicht rankommen. Es wäre sinnvoll, bei der anstehenden Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen etwas in diesem Bereich zu tun. Darüber sind wir mit dem Wirtschaftsministerium im Gespräch.
WiWo: Sollte die Novelle auch die Durchgriffsrechte auf die Digitalwirtschaft erhöhen?
Mundt: Wir diskutieren, wie wir die Kompetenzen des Kartellamts in der Missbrauchsaufsicht schärfen können, um noch schneller handeln zu können. Nur ein Beispiel: Wenn ein Techkonzern mit seiner Finanz- und Datenmacht in einen neuen Markt geht, ist er bislang ein Newcomer –und damit wettbewerblich ein vermeintlich positiver Faktor. Man muss darüber nachdenken, ob große Player, die einen Markt schnell aufrollen können, nicht von Anfang an der Missbrauchsaufsicht unterliegen sollten, um echten Leistungswettbewerb zu sichern.
WiWo: Viel Aufsehen hat das Kartellamt mit seiner Entscheidung im Fall Facebook erregt. Facebook soll nicht mehr automatisch Daten von anderen Diensten mit den Accounts seiner deutschen Nutzer verknüpfen. Hat das Signalwirkung?
Mundt: Davon bin ich überzeugt. Der Facebook-Fall zeigt wie die Google-Verfahren der EU-Kommission, dass die Wettbewerbsbehörden Zugriff auf die Digitalwirtschaft haben und Leitplanken einziehen. Das ist sinnvoller als eine Zerschlagung, wie sie immer mal wiedergefordert wird. Unsere Auflagen bei Facebook kommen einer inneren Entflechtung gleich, sie wirken strukturell. Wir wollen an datenbasierten Geschäftsmodellen nicht rütteln. Aber wir habender grenzenlosen Verwertung und Zusammenführung von Daten erstmals Grenzen gesetzt.
WiWo: Ihre Freude ist womöglich nicht von Dauer. Facebook hat Beschwerde beim Oberlandesgericht Düsseldorf eingelegt.
Mundt: Das ist der normale Gang der Dinge. Bestätigt das OLG allerdings die Entscheidung des Kartellamts im Eilverfahren, muss Facebook sein Geschäftsmodell binnen Jahresfrist umstellen...
WiWo: ...und zieht vor den Bundesgerichtshof?
Mundt: In der Hauptsache ist das gut möglich. Vielleicht geht es sogar bis vor den Europäischen Gerichtshof. Ich glaube, dass Facebook alle Rechtsmittel ausschöpfen wird. Wir würden das übrigens auch tun.
WiWo: Welche Branchen nimmt das Bundeskartellamt sonst noch ins Visier?
Mundt: Im Digitalbereich arbeiten wir an einer Sektoruntersuchung über den Markt für Onlinewerbung. Eine zweite Untersuchung beschäftigt sich mit dem Smart-TV. Da prüfen wir gerade, welche Nutzerdaten diese Geräte erfassen und was mit den Daten passiert. Außerdem gibt es ein Projekt mit der französischen Kartellbehörde zu Algorithmen und deren Auswirkungen auf den Wettbewerb. Künstliche Intelligenz lässt sich theoretisch gegen den Verbraucher einsetzen. Denkbar sind kommunizierende Algorithmen, die voneinander lernen, wie man im Onlinehandel möglichst hohe Preise durchsetzt –oder gar algorithmisch gesteuerte Absprachen.
WiWo: Sind die Juristen und Ökonomen des Kartellamts mit dieser komplizierten technischen Materie nicht überfordert?
Mundt: Zumindest müssen wir uns personell erweitern. Wir beschäftigen viele IT-Experten, haben gerade einen neuen Data Scientist eingestellt. Weitere werden folgen. Wir nutzen Algorithmen auch selbst für Ermittlungen und screenen zum Beispiel softwaregestützt bei Ausschreibungen, ob es Auffälligkeiten gibt.
WiWo: Das Kartellamt hat im November auch ein Missbrauchsverfahren gegen Amazon eingeleitet. Wie weit sind Sie?
Mundt: Wir sind mitten in der Prüfung. Es gab über 100 Beschwerden von Händlern über unterschiedlichste Sachverhalte. Im Kern geht es um die Geschäftsbeziehung zwischen Amazon und den Händlern, die Ware auf dem Marketplace von Amazon anbieten. Amazon ist Plattformbetreiber und zugleich konkurrierender Händler. Das Missbrauchspotenzial ist bei dieser Kombination sehr hoch. Zugleich ist das Geschäftsmodell sehr effizient. Der Verbraucher liebt es. Falls Beschwerden begründet sind, gilt auch hier: Wir müssen Leitplanken einziehen, Vertragsbedingungen anpassen, und eventuell ist später weitere Regulierung nötig.
Das Interview führte Bert Losse.
Quelle: www.wiwo.de vom 29.03.2019