Scheinbar transparent

Ein Marktplatz verspricht Überblick, also die Vergleichbarkeit von Angeboten. Im Onlinehandel ist diese Transparenz aber zum Trugbild geworden. Wie kann man ein freies Spiel der Kräfte wiederherstellen? Fragen wir Andreas Mundt. Er ist Präsident des Bundeskartellamts und damit hierzulande oberster Hüter des Wettbewerbs.

Das Bundeskartellamt hat sich nicht nur mit Facebook angelegt. Hier steht eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs noch aus, wie Nutzerdaten künftig verarbeitet werden dürfen. Auch Amazon ist im Visier der Bonner Wettbewerbshüter. Aber anders als Facebook hat es Amazon bislang nicht auf eine gerichtliche Konfrontation mit der Bundesbehörde ankommen lassen, sondern hat vorher eingelenkt. Im vergangenen Jahr hat der amerikanische Handelsriese seine Vertrags- und Geschäftsbedingungen gegenüber den Händlern verbessert, die den Amazon Marketplace nutzen – nachdem das Bundeskartellamt 2018 deshalb ein Verfahren gegen Amazon eingeleitet hatte. Doch Amazon ist nur ein kleiner Teil eines großen Bildes. Die Arbeit des Amts, das Andreas Mundt seit elf Jahren als Präsident führt, ist durch die Digitalisierung komplizierter geworden. Der freie Wettbewerb kann zum Beispiel auch über Algorithmen eingeschränkt werden. Dabei stand bislang die Kommunikationswirtschaft im Fokus. Nun kommt verstärkt der Onlinehandel ins Spiel. Das Muster ist gleich: Digitale Plattformen versprechen maximale Transparenz. Doch maximale Transparenz führt auch zu Unübersichtlichkeit. Und darin wiederum liegt die Verlockung, Kunden zu manipulieren, sie zu binden, Märkte abzuschotten und damit auch die Chancengleichheit für neue Wettbewerber einzuschränken. Es ist ein ständiger Kampf um Marktfreiheit. Starten wir den Versuch, ein wenig Licht ins Dickicht der aktuellen Situation zu bringen.

W&V: Herr Mundt, wird Amazon als Bedrohung des freien Handels unterschätzt?

A. Mundt: Den Eindruck habe ich nicht. Es gibt so viele Artikel in der Presse zu Amazon und über die Veränderung in der Handelswelt, so viele Besorgnisse über die Verödung der Innenstädte, die Probleme des stationären Einzelhandels und die Rückgänge dessen Umsatzes. Aber das Wort Bedrohung trifft es nicht. Amazon und auch einige andere Unternehmen werden als echte Game-Changer wahrgenommen.

W&V: Auch auf Seiten der Aufsichtsbehörden?

A. Mundt: Dass wir die Situation ernst nehmen, sehen Sie an den Verfahren, die das Bundeskartellamt geführt hat. Zweimal sind wir gegen Amazon aktiv geworden. Einmal 2013; da ging es um die Bestpreisklausel zu Lasten der Händler. Zum Zweiten 2019, als es um Geschäftsbedingungen des Amazon Marketplaces, wie die Frage der Kündigung ohne erklärten Grund, die Risikoverteilung bei Rücksendungen, den Gerichtsstand und weitere Klauseln ging. Auch gegen Audible haben wir gemeinsam mit der Europäischen Kommission ein Verfahren geführt. Zudem führt die Kommission gerade ein Verfahren gegen Amazon wegen der Frage der Verwendung von Daten, die Amazon von Dritthändlern auf der Plattform sammelt. Amazon erfährt sehr viel Aufmerksamkeit durch die Wettbewerbsbehörden.

W&V: Solche Verfahren dauern. Währenddessen entwickelt sich der Markt rasant. Hinkt die Rechtsprechung der wirtschaftlichen Realität hinterher?

A. Mundt: Viele rufen nach Regulierung; aber das ist gar nicht so einfach, auch für die Politik nicht. Wir alle müssen diese Phänomene zunächst einmal durchdringen und verstehen. Das ist ein komplexer Prozess. Auch die Rechtsprechung kann man nicht kritisieren, denn auch sie hat es mit ganz neuen Gegebenheiten zu tun. Das zeigt allein ein Blick auf das Kartellrecht. Der Tatbestand, dass Marktmacht über Daten hergestellt und auch ausgeübt wird, war so im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) von 1958 nicht vorgesehen. Das ist schwierig für uns als Wettbewerbsbehörde, denn es gibt zu unseren aktuellen Fällen noch keine Rechtsprechung. Und es ist auch schwierig für die Rechtsprechung, all diese komplexen Fragen in neuen Geschäftsmodellen auf Anhieb zu bewerten und einzuordnen. Das muss sich auch ein Stück weit entwickeln. Das ist ganz anders als in traditionellen Branchen.

W&V: Kann man das Kartellrecht heute überhaupt noch vom Datenschutzrecht trennen?

A. Mundt: Die Geschäftsmodelle vieler Unternehmen, über die wir hier sprechen, basieren praktisch ausschließlich auf Daten. Natürlich kommt man bei der Prüfung eines eventuellen Missbrauchs von Marktmacht ganz schnell auf Datenschutzkriterien. Aus meiner Sicht gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder wir entwickeln selbst Kriterien für den angemessenen Umgang mit Daten oder wir nehmen Kriterien, die der Gesetzgeber bereits etabliert hat, was naheliegend ist – insbesondere die Datenschutzgrundverordnung und deren Umsetzung. Insofern: Datenschutz spielt angesichts dieser datengetriebenen Geschäftsmodelle in das Wettbewerbsrecht hinein und umgekehrt das Wettbewerbsrecht in den Datenschutz. Ich meine, dass das Wettbewerbsrecht hinreichend flexibel ist, um die digitale Wirtschaft in den Griff zu bekommen. Aber die Gerichte haben das abschließende Wort und werden uns zeigen, ob wir gegebenenfalls die Gesetze anpassen müssen. Der Referentenentwurf für die 10. Novelle des GWB liegt jetzt vor. Er enthält bereits wichtige Neuerungen für den künftigen Umgang mit digitalen Plattformen.

W&V: Die Bundesregierung plant mit Gaia-X eine europäische Cloud-Infrastruktur, die eine Datensouveränität ermöglichen soll. Was halten Sie davon?

A. Mundt: Ich finde das absolut notwendig. Wir haben in Europa nicht viele Unternehmen, die solche Cloud-Dienste zur Verfügung stellen. Das sind bislang überwiegend Unternehmen, die von außerhalb Europas kommen. Für mich ist das Vorhalten von Daten Teil einer Infrastruktur. Und die Infrastruktur in solch kritischen Belangen wie Datenvorhaltung und -nutzung sollte aus einer gewissen Souveränität heraus erfolgen.

W&V: Man hat den Eindruck, dass die alte Welt des stationären Handels bislang kritischer beurteilt wird als die neue Welt des E-Commerce. Täuscht dieser Eindruck?

A. Mundt: Ja, der Eindruck täuscht. Handel ist in der öffentlichen Wahrnehmung und Darstellung oft gleichbedeutend mit Lebensmitteleinzelhandel. Da haben wir tatsächlich viel gemacht. Zum Beispiel eine große Sektoruntersuchung. Und es gab spektakuläre Fälle wie die Übernahme von Kaisers/Tengelmann durch Edeka. Einige dieser Fälle sind in der Wettbewerbs-Community intensiv diskutiert worden. Das darf aber nicht den Blick dafür verstellen, dass Handel sehr viel mehr ist. Nehmen wir das Beispiel der Fusion von Karstadt und Kaufhof. Dieser Zusammenschluss ist zwar nach intensiven Vorermittlungen, aber dennoch in der ersten Phase durchgegangen – gerade auch im Hinblick auf den Wettbewerbsdruck, der über den Onlinehandel kommt. Es gibt kein Ungleichgewicht. Letztlich geht es um die Herstellung eines level playing fields zwischen Online und Offline, damit am Ende der Verbraucher profitiert.

W&V: Derzeit führen Sie eine Sektoruntersuchung zu Vergleichsportalen durch. Die hat „verbraucherunfreundliche Praktiken“ offenbart. Können Sie ein Beispiel geben?

A. Mundt: Wenn der Verbraucher vor dem Bildschirm sitzt und bestimmte Produkte oder Serviceangebote vergleicht, dann hat er immer den Eindruck, er bekäme ein vollständiges Bild vermittelt. Wir haben festgestellt, dass das nicht immer so ist. Manchmal fehlt die Hälfte der Angebote. Zum Beispiel im Versicherungsbereich. Wir meinen, dass in diesen Fällen zumindest ein deutlicher Hinweis für den Nutzer auftauchen sollte, dass er nur einen Ausschnitt des Gesamtmarktes vor sich hat. Ein weiteres Beispiel ist das sogenannte Ranking. Da haben wir eine Reihe von Praktiken gefunden, die dem Verbraucher ein Ranking vermitteln, das vielleicht nicht unbedingt seinen Interessen entspricht. Zum Beispiel die schwierige Unterscheidbarkeit von Werbung und tatsächlichem Ranking an Platz eins. Da spielen offensichtlich gewisse Provisionen eine Rolle. Der dritte Bereich ist das Ausüben von Druck auf den Verbraucher.

W&V: Sogenannte „dark patterns“?

A. Mundt: Genau. Wer vor dem Bildschirm sitzt und ein Hotelzimmer buchen möchte, erhält oft den Hinweis „Buche jetzt – zehn Verbraucher schauen sich das auch gerade an“. Dann ahnt der Verbraucher nicht, dass vielleicht zwar tatsächlich in diesem Moment zehn Leute das Hotel anschauen, aber nicht für den gewählten Buchungszeitraum. Oder wenn dort steht: „Nur noch drei Zimmer frei“, dann betrifft das vielleicht nur dieses Portal und woanders sind noch viel mehr Zimmer frei. Das sind Praktiken, die aus unserer Sicht den Verbraucher dazu veranlassen können, eher eine schnelle als eine bewusste und informierte Entscheidung zu treffen. Uns ist es ein Anliegen, den Verbraucher in den Stand zu versetzen, nicht übereilt, sondern tatsächlich informiert zu handeln.

W&V: Vordergründig versprechen Anbieter Transparenz für den Verbraucher. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall.

A. Mundt: Na ja, ich würde das anders formulieren. Natürlich sind Vergleichsplattformen zunächst einmal sehr hilfreich. Sie sind ein guter Anhaltspunkt für den Verbraucher. Sie geben einen Überblick. Aber sie sind ein Instrument, das ich bedienen können muss. Wir haben auf unsere Webseite einen kurzen Erklärfilm gestellt, mit einfachen Tipps, die es zu beachten gilt. Vergleichsplattformen schaffen durchaus Transparenz. Aber sie erschließt sich dem Verbraucher nur, wenn bestimmte Irrtümer ausgeräumt werden. Das setzt einen informierten Umgang des Verbrauchers mit diesen Plattformen voraus.

W&V: Gibt es denn überhaupt noch den „unvoreingenommenen und verständigen“ Bürger, den die Bundesrichter in ihrer Rechtsprechung als Normalfall ansehen – oder ist er schon zum manipulierten und naiven Bürger geworden?

A. Mundt: Die Welt ist teilweise undurchsichtiger und komplizierter geworden. Das liegt auch daran, dass das Internet eine Fülle von Services ermöglicht und einen ganz anderen Zugang von Unternehmen und Serviceanbietern zum Kunden geschaffen hat. Einerseits ist das Angebot ganz stark gewachsen, andererseits ist es sehr viel komplexer geworden, sich in diesem Angebot zurechtzufinden. Der Verbraucher kann davon profitieren. Das setzt aber auch einen bewussten Umgang mit den Medien voraus. Das ist ein zweischneidiges Schwert. Es ist die Aufgabe der Verbraucherschützer sowie von Institutionen wie dem Bundeskartellamt und auch vieler anderer Behörden, die verbraucherschutzrechtliche Komponenten übernommen haben, den Verbraucher dahin zu lenken und darauf aufmerksam zu machen, dass er unvoreingenommen und verständig handeln muss.

W&V: Im jüngsten Yelp-Urteil betont der BGH die Meinungsfreiheit des Unternehmens. Im entsprechenden Grundgesetzartikel 5 wird nicht nur das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung festgeschrieben, sondern auch die passive Meinungsfreiheit, sich also ungehindert zu informieren. Wird diese Informationsfreiheit vom Bürger überhaupt richtig wahrgenommen?

A. Mundt: Der Verbraucher hat Möglichkeiten, sich zu informieren. Aber er muss die Informationen auch werten können. Deshalb ist es für uns zum Beispiel so wichtig, eine Sektoruntersuchung zum Thema Nutzerbewertungen im Internet durchzuführen. Wir wissen, wie viele Menschen sich davon leiten lassen. Solche Bewertungen können Kaufentscheidungen maßgeblich beeinflussen. Es ist wichtig, festzustellen, wie diese Entscheidungen zustande kommen und welche Manipulationsmöglichkeiten es gibt.

W&V: Es gibt zum Beispiel Webseiten, die damit werben, dass Unternehmen Verbraucherbewertungen kaufen können. Da werden sogar konkrete Preise dafür genannt. Für den Verbraucher sind die Hintergründe solcher Bewertungen völlig intransparent.

A. Mundt: Wir können zurzeit viel darüber lesen, aber wir wollen es genau wissen. Eine Behörde wie das Bundeskartellamt kann einen guten Beitrag leisten, Informationen bereitzustellen und den Verbraucher dafür zu sensibilisieren, vorsichtig mit Nutzerbewertungen umzugehen. Die Sektoruntersuchung ist noch nicht abgeschlossen. Aber die Post, die wir dazu bekommen haben, als wir die Untersuchung eingeleitet haben, lässt vermuten, dass es eine gute Idee war, sich damit zu beschäftigen. Ich bin gespannt auf die Ergebnisse.

W&V: Ist das Transparenzversprechen im Internet generell eine große Lüge?

A. Mundt: Das ist eine sehr zugespitzte Frage (lacht). Dieses Thema hat zwei Aspekte. Ich finde schon, dass die digitale Welt sehr viel Transparenz geschaffen hat. Nehmen wir als Beispiel die Markttransparenzstelle für Kraftstoffe. Wir werden immer wieder gefragt, ob es gut für den Markt sei, wenn wir diese Transparenz herstellen. Das ermögliche schließlich schnelle Reaktionen der Unternehmen aufeinander. Ich kann dazu nur sagen: Diese Transparenz hat es immer schon gegeben. Aber nur zugunsten der Unternehmen. Jeder Tankstellenpächter hat die Preise in seiner Umgebung beobachtet und Veränderungen der Konzernzentrale gemeldet. Mit der Markttransparenzstelle hat der Bürger plötzlich auch diese Transparenz. Das ist ein positiver Beitrag. Andererseits kann maximale Transparenz auch verwirren. Ein riesiges Angebot, das sich in Details verliert, macht es schwierig, sich dort zurechtzufinden. Nicht alles im Internet basiert auf dem Transparenzgedanken. Es sind auch Geschäftsmodelle entstanden, die davon leben, dass sie nicht transparent sind. Da müssen wir nachhelfen.

W&V: Das heißt?

A. Mundt: Wir müssen in die digitale Welt Leitplanken einziehen. Die vorhandenen sind unzureichend. Die Geschäftsmodelle sind schneller gewachsen als die Leitplanken und Korsettstangen. Wir haben Straßen, die ein schnelles Fahren ermöglichen, aber die Sicherheit ist noch verbesserungsfähig.

Das Interview führte Rolf Schröter.

Quelle: Verlag Werben & Verkaufen GmbH, N° 2 | Februar 2020, Seite 20-24

PDF-Datei des Interviews in der W&V:

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